Das Gas fließt, das Gas fließt nicht: Ob die Lieferung nach der Wartung der Pipeline „Nord Stream 1“ wieder anläuft, ist nicht vorherzusehen. Russland pokert mit der Angst der westlichen Gegner vor kalten Heizkörpern. Wie der Kreml seine weitere Reaktion auf die Sanktionen gestaltet, hat das Potenzial, die EU-Staaten einmal mehr zu spalten. Das ist auch das strategische Ziel des Kreml, so Mangott von der Uni Innsbruck zu ORF.at. Dieses Ziel könnte in Moskau als bedeutender eingeschätzt werden als finanzielle und wirtschaftliche Einbußen.
Die Debatte, ob die Strafmaßnahmen gegen den Aggressor ein probates Mittel sind, war nur eine Frage der Zeit. Ungarns Premier Viktor Orban bezeichnete die EU-Sanktionen bereits als Fehler. Man habe sich nicht nur ins Knie geschossen, sondern gar in die Lunge, und nun ringe man nach Luft. In Österreich regte Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer die Diskussion an. Die Sanktionen seien offenbar „nur mit einer Gehirnhälfte“ gedacht worden.
Resilienter als angenommen
Tatsächlich treffen die sanktionsbedingten Einbußen die russische Wirtschaft im Moment nicht so stark, wie der Westen es gehofft hat. Sie erweise sich resilienter als gedacht, so Mangott. Laut offiziellen Zahlen erzielte Russland im ersten Halbjahr einen Budgetüberschuss im Wert von mehr als 20 Milliarden Euro. Der Grund ist der hohe Ölpreis. Dieser und auch die Einnahmen aus dem Gassektor lagen deutlich über Plan.
Im ersten Halbjahr nahm Russland demzufolge durch den Verkauf von Öl und Gas mehr als 100 Milliarden Euro ein, trotz geringerer Ausfuhrmengen. Auch dem Rubel geht es wieder besser, nach einigen fiskalpolitischen Maßnahmen des Kreml ist er sogar so stark wie seit Jahren nicht mehr.
Russische Wirtschaft wird einbrechen
Derweil sind die Zahlen in der EU alarmierend. Krieg und Energiekrise dürften heuer für eine Inflation von 7,6 Prozent im Euro-Raum sorgen, so die aktuelle Prognose der EU-Kommission. Das Wachstum der gesamten EU-Wirtschaft bleibt der Prognose zufolge in diesem Jahr zunächst stabil. Für 2023 korrigierte die Kommission ihre Vorhersagen jedoch deutlich nach unten.
Ist also die Sanktionspolitik ein Schuss ins eigene Knie? Fachleute sehen ein Urteil über diese Frage als verfrüht an. Denn die Maßnahmen der EU zielen vor allem darauf ab, mittel- und langfristig Wirkung zu zeigen. Die EU geht davon aus, dass die russische Wirtschaftsleistung heuer noch um 10,4 Prozent schrumpfen wird, während in der EU noch mit einem Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent gerechnet wird.
Mittlerweile beträfen zielgerichtete Handelsbeschränkungen die Exportgeschäfte Russlands, berichtete am Freitag die dpa unter Hinweis auf interne Analysen von EU-Experten. Diese Beschränkungen träfen fast die Hälfte der Ausfuhren Russlands in die EU.
Vor allem aber die Exportverbote nach Russland sollen dem Kreml zum Problem werden. Das betrifft im Kleinen etwa einen Mangel an bestimmten Erdäpfeln, der bei Russlands McDonald’s-Kopie „Wkusno i totschka“ für ein Verkaufsende der Pommes frites führte. Westliche Shops sind geschlossen, erst am Montag beschloss die Modekette H&M endgültig ihren Rückzug, so wie viele vor ihr auch schon.
Sowjetmodelle und „Brain Drain“
Im Großen dürfte es vor allem bald Schwierigkeiten bei der Beschaffung von technologischen Gütern, etwa Maschinen, Fahrzeugteilen und Datenspeichern, geben. Schon jetzt lähmt das EU-Ausfuhrverbot für Dual-Use-Produkte (Verwendung für zivile und militärische Zwecke) nach Einschätzung der EU die militärischen Fähigkeiten Russlands. Wichtige Rüstungsfabriken, die zum Beispiel Luft-Luft-Raketen und Panzer produzieren, mussten demzufolge bereits aufgrund des Mangels an Importgütern geschlossen werden.
Zudem treffen die EU-Ausfuhrverbote IT-Unternehmen, Mobilfunkanbieter und besonders die russische Autoindustrie. Sie brach fast zur Gänze ein. Nach dem Weggang westlicher Autohersteller werden in Russland nun sowjetische Marken wie der Moskwitsch wiederbelebt, so die dpa. Russlands zivile Luftfahrt leidet nach EU-Angaben unter dem Verbot, in den europäischen Luftraum fliegen zu dürfen – vor allem aber auch unter den von der EU und den USA erlassenen Ausfuhrbeschränkungen für Ersatzteile und Services.
Auch der „Brain Drain“ ist deutlich: EU-Schätzungen zufolge verließen zuletzt rund 70.000 IT-Spezialisten das Land, weitere 100.000 könnten folgen.
Folgen eines Gasstopps
Merkliche Auswirkungen erwartet man zudem von der Umsetzung des bereits beschlossenen Kohle- und Ölembargos. Das Importverbot für russische Kohle wird am 10. August vollständig wirksam – und betrifft nach Angaben der EU ein Viertel der globalen russischen Kohleexporte im Wert von rund acht Milliarden Euro pro Jahr. Der Wert der russischen Rohölimporte in die EU belief sich 2021 auf rund 48 Milliarden
Euro und der von Erdölprodukten auf 23 Milliarden Euro. 90 Prozent davon sollen wegfallen, wenn ab dem 5. Dezember die Einfuhr von russischem Rohöl über den Seeweg verboten ist – und vom 5. Februar an die von verarbeiteten russischen Erdölerzeugnissen.
(ORF.at)