Nach Angaben des türkischen Gouverneurs von Istanbul, Ali Yerlikaya, haben sich zahlreiche Helfer vom städtischen Flughafen aus auf den Weg in die von Erdbeben verheerend getroffene Südtürkei gemacht. „Um 06.00 Uhr (Ortszeit) seien bereits 12.752 Mitarbeiter und Freiwillige der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad mit 73 Flugzeugen aus Istanbul in die Erdbebenregion geschickt worden, teilte Yerlikaya mit.
Allein in der Türkei wurden laut einer Dienstagfrüh veröffentlichten neuen Bilanz fast 3.000 Menschen getötet. Damit stieg die Gesamtzahl der Todesopfer in der Türkei und Syrien auf mehr als 4.300. Noch hoffen die Rettungskräfte, unter den Trümmern der Wohngebäude Menschen lebend zu bergen.
Es wird aber befürchtet, dass mit Fortschreiten der Rettungsarbeiten die Opferzahl noch weiter steigt. Oft sei bei Erdbeben die Zahl der Todesopfer am Ende „achtmal höher als die ersten Bilanzen“, warnte beispielsweise Catherine Smallwood von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). „Leider passiert bei Erdbeben immer das Gleiche: Die Zahl der Opfer und Verletzten steigt in der Woche danach stets signifikant an.“
Beben der Stärke 7,8
Das Beben der Stärke 7,8 überraschte die Menschen im Südosten der Türkei und im angrenzenden Syrien mitten in der Nacht. Im Laufe des Montags folgten noch mehrere Nachbeben, eines davon mit einer Stärke von 7,6 nur wenig schwerer als der ursprüngliche Erdstoß. Die Erschütterungen waren in mehreren Nachbarländern zu spüren, darunter im Libanon, im Irak sowie in Zypern und Israel.
Die Folgen des Bebens sind verheerend. Unzählige Häuser stürzten ein und begruben die Menschen unter den Trümmern. Bisher wurden in den beiden Ländern mehr als 4.200 Todesopfer gezählt. Es ist zu befürchten, dass die Zahl angesichts zahlreicher Verschütteter noch weiter steigen wird. Zugleich hoffen die Rettungskräfte, weiterhin Überlebende aus den Trümmern retten zu können.
48 Stunden kritische Grenze
Dabei drängt die Zeit. Die Überlebenschancen für Menschen, die unter eingestürzten Gebäuden gefangen sind, liege bei wenigen bis 48 Stunden, hieß es von Hilfsorganisationen und Expertinnen und Experten. „Die nächsten 24 Stunden sind entscheidend, um Überlebende zu finden. Nach 48 Stunden nimmt die Zahl der Überlebenden enorm ab“, sagte etwa die britische Vulkanologin und Risikoforscherin Cemnen Solana von der Universität von Portsmouth.
Bei den Erschütterungen stürzten allein in der Südosttürkei Tausende Gebäude ein. Auf Videos aus mehreren Städten in dem Gebiet waren teilweise völlig zerstörte Straßenzüge zu sehen. Unter den eingestürzten Gebäuden war neben Wohnhäusern auch ein Krankenhaus in der Stadt Iskenderun. Im türkischen Fernsehen waren Bilder von Helfern zu sehen, die teilweise mit bloßen Händen in den Trümmern nach Verschütteten suchten. Präsident Recep Tayyip Erdogan sprach vom schwersten Beben seit 1939.
Syrien wandte sich an die UNO-Mitgliedsstaaten, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere Hilfsorganisationen und bat sie darum, „die Bemühungen der syrischen Regierung zur Bewältigung des verheerenden Erdbebens zu unterstützen“, wie es in einer Erklärung des syrischen Außenministeriums hieß. Der staatlichen Nachrichtenagentur SANA zufolge stürzten in zahlreichen Städten Gebäude ein. Videos zeigten Trümmerberge unter anderem aus der Provinz Idlib, teils kollabierten ganze Häuserreihen.
Winterkälte verschärft Situation
Erschwert wurden die Rettungsarbeiten durch die tiefen Temperaturen – sie liegen in den betroffenen Gebieten zurzeit oft im Minusbereich. An manchen Orten schneite es stark. Im türkischen Staatssender TRT war zu sehen, wie Menschen bei Schnee in der Stadt Iskenderun aus Trümmern befreit wurden.
Auch aus den Städten Gaziantep, Sanliurfa, Osmaniye, Diyarbakir und Adana wurden Bilder gezeigt, auf denen Menschen teilweise in Decken gehüllt abtransportiert wurden. Laut den türkischen Behörden konnten bisher mehr als 2.000 Menschen lebend geborgen werden. Mehr als 14.000 Menschen wurden nach bisherigen Informationen in der Türkei und in Syrien im Zuge des Erdbebens verletzt.
Neben der Suche nach Überlebenden und der Versorgung der Verletzten gilt es aber auch denen zu helfen, die durch das Beben obdachlos geworden sind. Nach Angaben von Hilfsorganisationen handelt es sich in beiden Ländern um Tausende Menschen. Auch hier verschärfen die winterlichen Temperaturen die Lage zusätzlich.
Hilfsaufrufe und -zusagen
Zahlreiche Organisationen starteten Hilfsaufrufe, darunter die Caritas, das Rote Kreuz, die Diakonie, Ärzte ohne Grenzen, der Arbeitersamariterbund, CARE und World Vision. Caritas-Auslandshilfe-Generalsekretär Andreas Knapp sagte, es gehe vor allem um die Deckung der Grundbedürfnisse, wie „Erste Hilfe, Nahrungsmittel und Wasser, Decken und Schlafsäcke, psychologische Betreuung und die Koordination von Unterkünften“. Vor allem das von mehreren Krisen gebeutelte Syrien habe das Beben in einer verheerenden Lage erwischt.
Aus zahlreichen Ländern kamen inzwischen Hilfsangebote, erste internationale Rettungsteams sind bereits in den betroffenen Regionen oder auf dem Weg dorthin. Bis das tatsächliche Ausmaß der Folgen der Katastrophe sichtbar wird, dürften zumindest noch Tage vergehen.
Region mit stetiger Gefahr von Erdbeben
Die Türkei ist immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Dort grenzen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr.
Im Jahr 1999 war die Türkei von einer der schwersten Naturkatastrophen in ihrer Geschichte getroffen worden: Ein Beben der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt Izmit kostete mehr als 17.000 Menschen das Leben. Infolge dieses verheerenden Bebens verabschiedete die türkische Regierung 2004 ein neues Gesetz, das vorschreibt, dass alle Bauten modernen erdbebensicheren Standards entsprechen müssen.
Expertinnen und Experten bezweifeln aber, dass tatsächlich alle Bauvorhaben der vergangenen Jahre entsprechen umgesetzt wurden. Man werde nun überprüfen müssen, ob die neu errichteten Gebäude den gesetzlichen Standards entsprechen, „ob die Anforderungen ausreichend sind und ob es Möglichkeiten gibt, die Sicherheit älterer Gebäude zu verbessern“, so Joanna Faure Walker vom britischen Institut für Risiko- und Katastrophenvorsorge (UCL). Nicht zuletzt für die größte türkische Stadt Istanbul wird in naher Zukunft ebenfalls ein starkes Beben erwartet.
(ORF.at/Agenturen/Foto: Gettyimages)