Der lange Weg der Ukraine nach Europa

Dass französische Präsidenten in den ersten Tagen nach ihrem Amtsantritt nach Berlin reisen, ist eine mittlerweile jahrzehntealte Tradition. Für Emmanuel Macron ist es diesmal aber nicht bloß um diplomatische Usancen gegangen. Bei seinem Besuch Anfang Mai erhoffte sich der französische Staatschef auch Rückendeckung, um die Debatte über eine künftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine einzufangen, bevor sich diese komplett verselbstständigt. Macron schlug damals in der deutschen Hauptstadt eine neue politische Gemeinschaft vor, in der sich alle Länder versammeln sollten, die es nicht in die EU schafften oder nicht Mitglied sein wollen, etwa Großbritannien und Bosnien-Herzegowina, aber eben auch die Ukraine. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz sprach bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Macron von einem „interessanten Vorschlag“.

Tiefe vor Breite?

Knapp einen Monat später ist allerdings alles anderes. Macron und Scholz sind gemeinsam mit dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi nach Kiew gereist und haben sich dort dafür ausgesprochen, der „zur europäischen Familie gehörenden“ Ukraine so schnell wie möglich den EU-Beitrittskandidatenstatus zu verleihen. Und auch die EU-Kommission empfiehlt mittlerweile offiziell, diesen ersten Schritt für eine Mitgliedschaft des vor knapp vier Monaten von Russland überfallenen Landes zu gehen. „Die Ukraine hat ihre Entschlossenheit, europäische Werte und Standards hochzuhalten, ganz klar gezeigt“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die mit einem gelben Jackett und einer blauen Bluse in den ukrainischen Landesfarben gekleidet war, am Freitag in Brüssel.

Die 27 EU-Staaten müssen nun auf ihrem Gipfeltreffen kommende Woche entscheiden, ob sie dieser Empfehlung folgen wollen. Am stärksten für die Verleihung des Kandidatenstatus sind die osteuropäischen Mitgliedstaaten, die die Ukraine zumindest an die EU heranführen wollen, nachdem der Weg in die Nato derzeit versperrt ist. Der Vorbehalte in Westeuropa ist man sich dabei durchaus bewusst. So hat etwa der slowakische Ministerpräsident Eduard Heger erst vor kurzem klargemacht, dass es trotz aller Solidarität keine Abkürzung für die Ukraine bei einem Beitritt geben dürfe, sondern dass das Land alle Kriterien erfüllen müsse. Nicht nur in den Westbalkanländern, sondern auch in Deutschland und Österreich waren zuletzt Befürchtungen aufgekommen, dass für die Ukraine eine Art Überholspur eingerichtet wird, während die Verhandlungen mit Nordmazedonien, Albanien oder Montenegro schon seit Jahren nur sehr schleppend vorankommen.

Hinter den Kulissen gibt es laut EU-Diplomaten aber nicht nur wegen der Westbalkanländer Vorbehalte gegen eine zu schnelle EU-Annäherung der Ukraine. So hat vor allem Macron in der Vergangenheit immer wieder darauf gedrängt, dass sich die EU vor der Aufnahme weiterer Länder erst selbst reformieren müsse. Auch Scholz hat sich für die weitgehende Abschaffung der Einstimmigkeit bei Entscheidungen der 27 EU-Länder ausgesprochen, die in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik schon jetzt als schwerfällig gelten.

Sollte ein großes Land wie die 44 Millionen Einwohner zählende Ukraine beitreten, hätte dies zudem erhebliche Auswirkungen auf die Geldzuweisungen aus Brüssel und das Stimmengewicht der einzelnen Länder etwa im EU-Parlament. In der Ukraine und der Republik Moldau, die am Freitag ebenfalls eine Empfehlung als Beitrittskandidat bekommen hat, ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um etwa die Hälfte niedriger als im ärmsten EU-Land Bulgarien. Länder wie Schweden oder Dänemark haben zudem Vorbehalte, weil die Ukraine weit von den Rechtsstaatsstandards, die für ein künftiges EU-Mitglied nötig wären, entfernt ist und die Regierung in Kiew der grassierenden Korruption über Jahre hinweg nicht Herr geworden ist. So bemängelte etwa ein im Spätsommer 2021 veröffentlichter Bericht des EU-Rechnungshofs die zu geringen Fortschritte in den Jahren 2016 bis 2019. Trotz der Unterstützung der EU – zum Beispiel bei Justizreformen, Projekten in der Zivilgesellschaft sowie Maßnahmen in der Unternehmensführung – habe der Einfluss der schwerreichen Oligarchen nicht nachgelassen, befand der Rechnungshof damals. Laut den Prüfern seien auch Errungenschaften im Justizbereich durch Versuche gefährdet worden, Gesetze zu umgehen und Reformen zu verwässern.

Gesetz als Hoffnungsschimmer

Als Hoffnungsschimmer gilt daher das im September 2021 verabschiedete Gesetz, mit dem Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sich im Wahlkampf als Korruptionsjäger positioniert hat, den Einfluss der Oligarchen zurückdrängen will. Die Regelung, die die Schaffung eines Oligarchen-Registers vorsieht und den Betroffenen eine Offenlegung von Vermögenswerten sowie ein Verbot der Teilnahme an Privatisierungen vorschreibt, ist aber nicht unumstritten. Selenskyjs Gegner werfen ihm vor, mit dem Gesetz vor allem unliebsame politische Konkurrenz ausschalten zu wollen.

Der Kandidatenstatus ist allerdings ohnehin nur die erste Stufe eines komplexen Prozesses mit vielen Zwischenstufen wie etwa der Aufnahme von Verhandlungen oder der Eröffnung von Beitrittskapiteln. Und Hoffnung, dass der Beitritt ähnlich rasch erfolgt wird wie die Verleihung des Kandidatenstatus, will der Ukraine derzeit niemand machen. Der Weg werde sehr lang sein, sagte Kanzler Scholz unmittelbar, nachdem er aus Kiew abgereist war.

(WienerZeitung)

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