Die Zahl ist gigantisch. Rund 1,2 Billionen Euro umfassen die Hilfen, die Deutschland im Kampf gegen die Coronaviruskrise mobilisiert hat. Diese Summe entspricht einem Drittel der Wirtschaftsleistung, also aller Waren und Dienstleistungen, die in der Bundesrepublik in einem Jahr produziert werden. Damit sei in Berlin das bislang weltweit größte Rettungspaket geschnürt, gab der Internationale Währungsfonds (IWF) in dieser Woche bekannt.
Als Bürger kann man sich da schon mal die Augen reiben. Saß der Bundesfinanzminister nicht vorgestern noch auf dem Geld und verteidigte die schwarze Null? Wurde nicht erbittert über ein Projekt wie die Grundrente gestritten, deren anfängliche Kosten 1,3 Milliarden betragen sollen – also ein Tausendstel der jetzt lockergemachten Hilfen? Anders gesagt:
Wieso gibt der Staat plötzlich so viel Geld aus?
Die kurze Antwort lautet: aus Sorge vor Schlimmerem. Bislang zeigen sich die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise vor allem in Form geschlossener Geschäfte. Doch hinter verrammelten Türen kämpfen viele Unternehmen längst um ihre Existenz. Laut einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) ist jede fünfte Firma von der Insolvenz bedroht, zu den Pleitekandidaten gehören Kleinunternehmer genauso wie Fluglinien oder Bundesligaklubs.
In anderen Ländern sieht es nicht besser aus. Laut IWF könnte die Coronakrise global zum schlimmsten Wirtschaftseinbruch seit 90 Jahren führen. Das hätte verheerende soziale Folgen, besonders für ärmere Menschen. Und es bedroht die Finanzierung des Staates gleich doppelt: Einerseits brechen ihm viele Milliarden an Steuereinnahmen weg, zugleich erhöhen sich massiv die Sozialausgaben.
Um diese Effekte zumindest abzuschwächen, steuert die Politik nun gegen. Mit Krediten, Zuschüssen und ausgeweiteten Lohnersatzleistungen wie dem Kurzarbeitergeld versucht sie, Unternehmen und Selbstständige durch die Krise zu bringen. Hinzu kommen unmittelbare Ausgaben im Kampf gegen das Virus, wie rund 11 Milliarden zusätzlich für Krankenhäuser, medizinische Ausrüstung, Forschung und Informationskampagnen.
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hat sich im Zusammenhang mit den Corona-Hilfen als „sehr überzeugten Keynesianer“ bezeichnet. Laut der Wirtschaftstheorie von John Maynard Keynes sollten Staaten in Krisenzeiten mehr Geld ins Wirtschaftssystem pumpen – etwa durch Investitionen oder Steuersenkungen. Diese Ausgaben werden durch Schulden finanziert (deficit spending), die im Aufschwung wieder abgebaut werden sollen.
Von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (beide CDU) sind ähnliche Bekenntnisse zu Keynes zwar nicht überliefert. Doch gemeinsam mit Scholz haben sie bereits in der Finanzkrise eine keynesianische Politik verantwortet: Der Staat schnürte milliardenschwere Konjunkturpakete, um die Folgen des wirtschaftlichen Einbruchs abzufedern. Damals wie heute stellt sich allerdings die Frage:
Woher nimmt der Staat das ganze Geld?
Zunächst einmal gibt Deutschland nun keineswegs auf einen Schlag eine Billion Euro aus. Nur rund 15 Prozent der Gesamtsumme bestehen aus direkten Ausgaben, darunter 50 Milliarden Euro an Zuschüssen für Kleinunternehmer und Selbstständige. Den Großteil machen hingegen staatliche Kredite und Bürgschaften aus, insbesondere für Hilfsprogramme der Staatsbank KfW. Dabei handelt es sich um Gelder, die der Staat im Idealfall zurückerhält, inklusive Zinsen.
Für die verbleibenden Ausgaben verschuldet sich Deutschland dennoch erheblich: In diesem Jahr nimmt er neue Schulden von 156 Milliarden Euro auf. Dieses Geld besorgt sich die Bundesrepublik über Staatsanleihen bei Investoren – also zum Beispiel Banken und Versicherungen, aber auch normalen Kleinanlegern. Damit macht der Bund derzeit ein sehr gutes Geschäft. Denn weil das Zinsniveau zurzeit extrem niedrig liegt und deutsche Anleihen als sichere Anlage gelten, nehmen Anleger sogar Negativzinsen in Kauf. Sie verzichten also auf einen kleinen Teil der Summe, die sie dem deutschen Staat leihen. Oder anders gesagt: Der Staat muss nicht mal die volle Summe zurückzahlen, die er sich bei den Investoren geliehen hat. Angesichts der Milliardenbeträge stellt sich dennoch die Frage:
Was bedeutet das für die Staatsverschuldung?
Bis zur Coronakrise war Deutschland dabei, seine Gesamtverschuldung zu reduzieren. Im vergangenen Jahr sank das Verhältnis von Schulden zur Wirtschaftsleistung erstmals seit Langem wieder unter 60 Prozent – die sogenannte Maastricht-Hürde, über die der Schuldenstand laut EU-Vorgaben eigentlich nicht steigen soll. Durch die Coronakrise wird der Schuldenstand nun wieder schlagartig nach oben schießen, bis Jahresende voraussichtlich auf rund 75 Prozent.
Das ist zweifellos ein Rückschlag nach Jahren der Haushaltskonsolidierung. Doch es ist alles andere als eine untragbare Last. Schuldenweltmeister Japan kommt mittlerweile auf eine Quote von rund 240 Prozent und kann sich immer noch recht günstig an den Finanzmärkten frisches Geld leihen. Auch Frankreich ist trotz einer Schuldenquote von 100 Prozent weit von der Pleite entfernt, der Schnitt der Eurozone liegt bei 86 Prozent.
Man werde jetzt „nicht jeden Tag fragen, was die Maßnahmen für das Haushaltsdefizit bedeuten“, sagte Angela Merkel schon früh in der Krise. Hinter dieser Gelassenheit steht auch das Wissen, dass Deutschland aus den Schulden wieder „herauswachsen“ kann. Denn der Anteil Schulden an der Wirtschaftsleistung reduziert sich, wenn die Wirtschaft wieder wächst. Und damit rechnen die Wirtschaftsforschungsinstitute auf jeden Fall im kommenden Jahr wieder.
Die jetzt neu aufgenommen Schulden muss die Bundesregierung zudem ab 2023 über 20 Jahre abbauen. So sieht es die Schuldenbremse im Grundgesetz vor, die wegen der Corona-Epidemie erstmals ausgesetzt wurde. Das ist in Krisenzeiten ausdrücklich erlaubt, aber es bleibt die Frage:
Wer muss am Ende bezahlen?
Diese Debatte ist bereits entbrannt. SPD-Chefin Saskia Esken brachte zur Finanzierung der Krisenlasten eine einmalige Vermögensabgabe ins Spiel, Finanzminister Scholz schließt höhere Steuern für Reiche nicht aus. Vom Koalitionspartner kommt jedoch massiver Widerstand. CSU-Landesgruppenchef Hans Michelbach sagte: „Statt im ideologischen Sumpf zu spielen, sollte sich der Bundesfinanzminister darauf konzentrieren, wie wir die Wirtschaft wieder in Fahrt bekommen.“
Doch wie weit sollte der Staat in diesem Bemühen gehen? Forscher der Wissenschaftsakademie Leopoldina haben in dieser Woche unter anderem vorgeschlagen, den Solidaritätszuschlag auch für die obersten zehn Prozent abzuschaffen. Dies wäre zwar eine Entlastung für viele Unternehmen, würde dem Fiskus aber zusätzlich Einnahmeverluste von rund elf Milliarden Euro bescheren.
Derzeit geht der Staat für die Wirtschaft ohnehin massiv ins Risiko. So garantiert er seit dieser Woche bei einem Schnellkredit der KfW erstmals für 100 Prozent der Summe, die vermittelnden Banken tragen selbst keinerlei Risiko mehr. Müssen für so viel Entgegenkommen in Zukunft nicht auch die Unternehmen ihren Beitrag leisten?
Wolfgang Schmidt, Finanzstaatssekretär und rechte Hand von Olaf Scholz, gab darauf im Podcast „Coronomics“ eine bemerkenswert ehrliche Antwort: Man sei derzeit zu sehr mit den aktuellen Problemen beschäftigt, um diese Debatte wirklich führen zu können. Zudem müsse man die Lage einzelner Unternehmen nach der Krise abwarten, bis hin zur Frage: „Welche Sektoren gibt es überhaupt noch?“
Das sei ein bisschen wie nach einer Sternenschlacht bei „Raumschiff Enterprise“, so Schmidt weiter. „Wo dann Captain Picard den Statusbericht anfordert und man dann erstmal rausfinden muss: Welche Maschinen sind ausgefallen, welche Schutzhülle ist kaputt?“
(spiegel.de)